Farbenlehre für Gestalter

Farbe – das große Rätsel

Eigentlich ist ja bekannt, was Farbe ist und wie man sie anwendet. Immerhin gibt es dicke Bücher über Farben: wie sie entstehen, wie der Mensch sie sieht, welche Rolle man den elektromagnetischen Wellen zuschreibt, dem menschlichen Sehapparat, dem Gehirn. Welche Farbstoffe es gibt, wie man daraus Anstrichstoffe herstellt, wie man Farben misst, mischt, ordnet, und so weiter. Dieses Wissen ist publiziert und vieles davon auch im Internet jedermann zugänglich. Soll es hier wiedergekäut werden?  – Nein, ganz bestimmt nicht.

Wie wir die Welt erleben (himmelsblau) und was wir uns vorstellen, das sie sei  (elektromagnetische Wellen), steht im Widerspruch.

Wie wir die Welt erleben (himmelblau) und was wir uns vorstellen, das sie sei (elektromagnetische Wellen), steht im Widerspruch.

Wir leben wir in einer Wissensgesellschaft, und ein Ideal unserer Bildung scheint zu sein, Wissen zu vermitteln, über Wissen zu verfügen, es kombinieren und strukturieren zu können. Doch wenn Schüler nach der Physik- oder Biologiestunde den Schulraum verlassen und den blauen Himmel über sich sehen, tief durchatmen und ihre Lebenslust spüren, dann mögen sie sich (mit Goethe) sagen: „Grau, treuer Freund, ist alle Theorie,  und grün des Lebens goldner Baum!“ Und sie meinen: „Ich empfinde keine Verbindung zwischen dem Wissen und mir selbst; das Wissen betrifft mich nicht. Bücherwissen kann ich immer dann hervorholen und anwenden, wenn ich ein technisches Problem zu lösen habe. Es ist aber nicht Wissen, das mit meinem Leben und Erleben zu tun hat.“ Und gerade diejenigen die auch noch kreative Aufgaben gestalterisch zu lösen haben, stehen mit Schulwissen ziemlich hilflos da – wie folgendes Beispiel zeigt.

Der Himmel ist blau, weil…
Warum ist der Himmel blau? Aus Lehrbüchern und populären Wissenschaftsmagazinen erfahren wir die Antwort: „Das Himmelsblau entsteht in Folge eines Streuungsphänomens elektromagnetischer Wellen an Molekülen der Erdatmosphäre (die so genannte Rayleigh-Strahlung.) Trifft ein Sonnenstrahl auf ein Luftmolekül, so wird ein Teil der Energie des Lichts absorbiert und dabei das Molekül zu einer Schwingung angeregt. Aufgrund dieser Schwingung strahlt das Molekül selber Licht ab, wobei diese Abstrahlung hauptsächlich senkrecht zur Einfallsrichtung der Sonnenstrahlen erfolgt. Die von dem Molekül abgestrahlte Energie ist proportional zur vierten Potenz der Frequenz des einfallenden Lichtes. Blaues, hochfrequentes Licht wird also stärker gestreut als niederfrequentes, rotes Licht. Betrachtet man den Himmel, ohne direkt in die Sonne zu sehen, so nimmt man nur gestreutes Licht wahr. Der größte Anteil des gestreuten Lichtes ist blau und gibt daher dem Himmel seine Farbe.“
Ist das die gesuchte Antwort? Wenn die Frage „Warum…“ nicht nach dem Sinn, sondern nach einer technischen Funktionalität zielt, dann könnte diese Erklärung eine Teilantwort sein. Aber nur eine Teilantwort, denn wir erfahren nicht, warum niederfrequentes Licht rot, hochfrequentes Licht blau aussieht. Um das zu erklären, müsste eine wesentlich umfangreichere Erklärung verlautbart werden. Sie würde sich mit elektromagnetischen Wellenlängen, dem menschlichen Auge und dessen Physiologie, diversen Wahrnehmungstheorien, dem Gehirn usw. beschäftigen. Nehmen wir einmal an, ich würde die Erklärung hier referieren, Sie würden alles brav durchlesen, und zwanzig Seiten später fragen Sie: „Was ist das eigentlich, eine elektromagnetische Welle? Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen…“ „Und was meinen Sie mit kortikaler Verarbeitung der Farbinformation?“

Gespensterwelt der Modelle
Naturwissenschaft bedeutet heute, sich immer tiefer in Modellwelten hinein zu arbeiten, in denen ein Modell mit dem anderen erklärt und gestützt wird. Man spricht von Wellen, die sich längst nicht mehr durch das Bild einer Welle darstellen lassen, von Teilchen, deren Form und Ort man nicht kennt, von Kräften, die nur als Gedanke erfasst werden, und vom menschlichem Bewusstsein inklusive der Farben, die es „eigentlich“ gar nicht gibt, da sie nur ein Ergebnis „kooperativer Zusammenarbeit von Zellverbänden“ im Gehirn seien. Der studierte Fachmann mag vielleicht mit diesen nicht auflösbaren Paradoxien umgehen können, der halbgebildete Laie schwafelt nur und merkt meistens nicht, dass er völlig orientierungslos durch die Welt läuft und mit leeren Worthülsen um sich wirft, aus denen sich auch der letzte Rest Wirklichkeit entfernt hat. Seine Erfahrung, dass der Himmel blau ist, hat mit all dem nichts zu tun, und für die Aufgabe, einen Eingangsbereich farbig zu gestalten, lässt sich keine verwertbare Erkenntnis ableiten. Was Fachleute aus der Schattenwelt der Modelle allerdings mit Erfolg ableiten, sind Bauanleitungen für Maschinen, mit denen Teilaspekte des untersuchten Phänomens technisch reproduziert und manipuliert werden können.

Wissen, das mehr schadet als hilft
Wissen, das auf Modellvorstellungen beruht, ist tendenziell lebensfeindlich. Es führt dazu, dass Menschen nicht mehr fähig sind, sich dem Anblick des Blauen unvoreingenommen hinzugeben, weil ihnen ständig eine Stimme ins Ohr flüstert: „Das Blau gibt es gar nicht. Das hat sich Dein Gehirn ausgedacht. Es lohnt sich gar nicht, hinzuschauen. Die Welt ist erklärt, es gibt kein Geheimnis. Jedenfalls keines, das Du hier und jetzt lüften könntest – Forschung ist das Arbeitsgebiet von Spezialisten“ und so weiter. Zu solchen lebenshemmenden Kernsätzen zählt auch die Anschauung über das, was Farben ihrem Wesen nach seien: Die Evolution (wer auch immer „die Evolution“ ist) lies zufällig Organe entstehen, die elektromagnetische Wellen unterschiedlicher Frequenz sinnlich abbildeten. Solche Organe boten ihren Trägern Überlebensvorteile, und so war ihre Vermehrung und weitere Spezialisierung bis hin zum menschlichen Auge nur eine Frage der Zeit. „Unsere Vorfahren“ konnten beispielsweise reife (rote) von unreifen (grünen) Früchten schon von ferne unterscheiden, und mussten nicht erst hinein beißen, um zu merken, welche Frucht genießbar und welche ungenießbar war… Schauen Sie sich mit diesem Hintergrundwissen die Natur an, und der sinnliche Reichtum, in den Sie eintauchen, verwandelt sich in eine technisch perfekt abgestimmte Maschinerie wechselseitiger Überlebensvorteile. Ist das die Welt, in der wir leben?

Farben: Brücke zwischen „Ich“ und „Welt“
Als Zeitgenossen leben wir in zwei Welten. In der ersten Welt leben wir, halten sie für real, spüren unsere eigene Existenz, denken und fühlen, lachen und weinen, handeln und leiden. Die zweite Welt (die naturwissenschaftliche Welt der Theorien, Hypothesen und Modelle) dient zur Erklärung der ersten. Verhängnisvoll ist, dass sie nur Elemente beinhaltet, die nicht der menschlichen Existenz angehören, denn Modelle sind keine Erfahrungen, sondern Theorien über das Zustandekommen von Erfahrung. Die unkritische Vermischung beider Welten führt zu einer Schizophrenie des modernen Bewusstseins, und zu einer Schwäche, das eigene Leben und Erleben geistig zu reflektieren. – Wissenschaftskritik ist nichts Neues. Neu ist vielleicht, Fragen der Wissenschaftstheorie in einer Maler-Zeitschrift anzureißen. Ich tue das, weil ich Farben mag, weil ich „dabei bin“, wenn sie sich ereignen, und ich nicht verstehe, wie jemand allen Ernstes so einen Unfug schreibt wie „Rot ist eine langwellige Farbe“. Oder „Rot entsteht im Gehirn.“
Um mit Farben zu gestalten, um unser eigenes Leben zu verstehen, das untrennbar mit Farben verbunden ist, brauchen wir eine Wissenschaft der Farben und eine daraus resultierende Farbenlehre, die nicht mit Modellen, sondern mit einem „anschauenden Denken“ operiert. Eine Wissenschaft aus dem Leben für das Leben. In den folgenden Beiträgen (der Österreichischen Fachzeitschrift COLOR, in der der Artikel im Februar 2009 erstmals publiziert wurde) sollen Bausteine zu solch einer Farbenlehre geliefert werden.

Kategorie: Farbenlehre, Wesen der Farbe

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